Lesung zum Thema "Unbehaust" am 5.Januar 2024

Textauswahl Norbert Hümbs

Eingerichtet und vorgetragen von Marjam Azemoun

 

Prolog 

Bibel Matthäus Evangelium 70 n. Chr.

„Die Füchse haben Gruben und die Vögel unter dem Himmel haben Nester, aber der Menschensohn hat nichts, wo er sein Haupt hinlege“. Matthäus 8, 21-22

 

Guten Abend meine Damen und Herrn 

33 Bilder zum Thema unbehaust können Sie hier sehen …. mit teils so poetischen Titeln wie: 

Auf dem Wasser träume ich von zu Hause …… oder happy go lucky ….. und Sehne dich und wandere …. Aber auch Can´t find my way home …. Oder Before they are gone …. Was bleibt …. The vain attempt to keep the head above the water …..

 

Und 18 Textbilder - die Norbert Hümbs für Sie zu diesen Bildern zusammengestellt hat ….

Blicke auf das Un-behaust-Sein …… möchte ich Ihnen darbieten ….

 

Beginnen wir mit dem Inhaltsangabe-Verzeichnis des Buches von Wilhelm Schmid … Heimat finden …

 

Heimat ist erfahrbar in Phantasie, Utopie und Transzendenz 

Heimat entsteht beim Unterwegssein in Raum und Zeit

Heimat ist das vibrierende Leben in der Stadt 

Heimat ist das ruhige Leben auf dem Land 

Heimat wird geschaffen mit Kunst und Kultur

Heimat fühlen Menschen in der Natur 

Heimat ist überall, wo Beziehung ist 

 

 

Und wo sind Sie behaust?

Finden sie es heraus heute Abend … 

 

 

2 Lukas Evangelium. Ca. 70 n.Chr.

Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, dass alle Welt geschätzt würde. 2Und diese Schätzung war die allererste und geschah zur Zeit, da Quirinius Statthalter in Syrien war. 3Und jedermann ging, dass er sich schätzen ließe, ein jeglicher in seine Stadt.

Da machte sich auf auch Josef aus Galiläa, aus der Stadt Nazareth, in das judäische Land zur Stadt Davids, die da heißt Bethlehem, darum dass er von dem Hause und Geschlechte Davids war, auf dass er sich schätzen ließe mit Maria, seinem vertrauten Weibe; die war schwanger. 6Und als sie daselbst waren, kam die Zeit, dass sie gebären sollte. 7Und sie gebar ihren ersten Sohn und wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe; denn sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge.

 

Der 3. Blick: Faust

3 Goethe Faust 1808

Bin ich der Flüchtling nicht? Der Unbehauste?
Der Unmensch ohne Zweck und Ruh,
Der wie ein Wassersturz von Fels zu Felsen brauste, Begierig wütend nach dem Abgrund zu?  (Faust)

Und seitwärts sie, mit kindlich dumpfen Sinnen, Im Hüttchen auf dem kleinen Alpenfeld,
Und all ihr häusliches Beginnen
Umfangen in der kleinen Welt.  (Gretchen)   

Der 4. Blick aus dem Buch der Unruhe – von Fernando Pessoa ……

 

4 Fernando Pessoa S.121. Buch der Unruhe 1929-34  - 7.4.1933

 

Ich bin an ihnen als Fremdling vorbeigegangen, doch hat niemand bemerkt, daß ich ein solcher gewesen bin. Ich habe unter ihnen als Spion gelebt, und niemand, nicht einmal ich selbst, hat den Verdacht gehegt, dass ich einer wäre. Alle haben mich für einen Verwandten gehalten: niemand ahnte, dass man mich bei der Geburt vertauscht hatte. So war ich den anderen gleich, ohne ihnen ähnlich zu sein, ein Bruder von ihnen allen, ohne doch zur Familie zu gehören.

Ich kam aus wunderbaren Ländern, aus Landschaften schöner als das Leben, aber von den Ländern habe ich nie geredet außer mit mir selber, und von den erträumten Landschaften habe ich ihnen nie Kunde gegeben. Meine Schritte hallten wie die ihrigen auf den Fußböden und Fliesen, doch mein Herz war fern, auch wenn es nahe schlug, falscher Herr über einen verbannten und fremden Körper.

Niemand erkannte mich unter der Maske der gleichen gesellschaftlichen Stellung, niemand erfuhr je, daß es sich um eine Maske handelte, denn niemand wußte, daß neben mir immer ein anderer stünde, der letztlich ich selber war. Sie hielten mich stets für identisch mit mir.

Ihre Häuser gewährten mir Unterkunft, ihre Hände schüttelten die meinige, …. mein wahres Ich hat keine Hände, die andere schütteln könnten,…… 

Wir leben alle fern und namenlos; verkleidet leiden wir als Unbekannte…….

Klar zu wissen, dass, wer wir sind, nicht bei uns ist, daß, was wir denken und fühlen, stets eine Übersetzung ist, dass, was wir wollen, wir nicht gewollt haben und es möglicherweise niemals jemand gewollt hat - dies alles in jeder Minute, dies alles in jedem Gefühl zu fühlen, heißt das nicht ein Fremdling in der eigenen Seele sein, ein Verbannter in den eigenen Empfindungen?

 

 

5 Karsten Harries. Deutsch-amerikanischer Philosoph 1992

Der 5. Blick

Karsten Harries  - der deutsch–amerikanische Philosoph - fasst Heideggers Begriff von Heimat als ein fortwährendes Unterwegs-Sein zusammen:

„Heidegger versteht den Menschen als einen, der das Wohnen immer wieder suchen, immer wieder erst lernen muss. …… Nur so kehrt der Mensch zu sich selbst heim. Zu dieser Heimkehr gehört der Verzicht den Anspruch auf gesicherten Besitz der Heimat…..

Der Mensch wird sich selbst untreu, wenn er vermeint, irgendwo seine eigentliche Heimat gefunden zu haben, nun endlich angekommen und wirklich zuhause zu sein. Gerade der vermeintliche Fund der Heimat lässt ihn wirklich heimatlos werden, unzuhause im Eigensten. Zum Wesen des Menschen gehört ein nie zu befriedigendes Heimweh.“

 

 

6. Cormac Mc Carthy Die Straße S. 11.  2006

 

6. Cormac Mc Carthy Die Straße 

Ein Buch über Die Welt nach dem Ende der Welt

 

In jenen ersten Jahren waren die Straßen mit Flüchtlingen bevölkert, die ihre Kleidung wie ein Leichentuch trugen. Mundschutze und Schutzbrillen aufhatten und in ihren Lumpen am Straßenrand saßen wie verarmte Luftschiffer. Ihre Schubkarren mit Ramsch beladen. Leiter- oder Handwagen ziehend. Die Augen hell in ihren Schädeln. Glaubenslose, leere Hülsen von Menschen, die die Landstraßen entlangwankten wie Migranten in einem Fieberland. Die Hinfälligkeit von allem und jedem endlich zutage getreten. Alte, quälende Streitfragen in Nichts und Nacht aufgelöst. Mit dem letzten Exemplar von etwas geht die ganze Gattung zugrunde. Macht das Licht aus und ist weg. Man brauchte sich nur umzuschauen. Nie mehr ist eine lange Zeit. Aber der Junge wusste, was er wusste. Dass nie mehr im Handumdrehen passiert war.

 

 

Er brauchte lange, um einzuschlafen. Nach einer Weile wandte er sich dem Mann zu und sah ihn an. Sein Gesicht war im trüben Licht vom Regen schwarz gestreift, wie bei einem Schauspieler der alten Welt. Darf ich dich mal was fragen? , sagte er. 

Ja. Natürlich. 

Werden wir sterben? 

 Irgendwann schon. Aber jetzt noch nicht. 

 Gehen wir immer noch nach Süden? 

 Ja. 

 Damit wir es warm haben. 

 Ja. 

 Okay. 

 Okay was? 

 Nichts. Einfach nur okay. 

 Schlaf jetzt. 

 Okay. 

 Ich puste die Lampe aus. Ist das okay? 

 Ja. Das ist okay. 

 Und dann später, in der Dunkelheit: Darf ich dich mal was fragen? 

 Ja. Natürlich. 

 Was würdest du machen, wenn ich sterben würde?

Wenn du sterben würdest, würde ich auch sterben wollen. 

Damit du mit mir zusammen sein kannst?

Ja. Damit ich mit dir zusammen sein kann.

Okay.

 

 

 

Auf der anderen Seite des Flusstals führte die Straße durch völlig verbranntes schwarzes Gelände. In alle Richtungen erstreckten sich verkohlte, astlose Baumstümpfe. Asche wehte über die Straße, und von den geschwärzten Strommasten hingen wie schlaffe Hände abgerissene Kabel und wimmerten dünn im Wind. Auf einer Lichtung ein abgebranntes Haus, dahinter ein Streifen Weideland, öde und grau, und ein nackter roter Erdwall von einer verlassenen Baustelle. Weiter weg Reklametafeln, die für Motels warben. Alles, wie es einmal gewesen war, nur verblichen und verwittert. Auf der Hügelkuppe standen sie in Kälte und Wind und verschnauften. Er sah den Jungen an. Alles in Ordnung, sagte der Junge. Der Mann legte ihm die Hand auf die Schulter und deutete mit einer Kopfbewegung zu dem offenen Land hin, das unter ihnen lag. Er nahm das Fernglas aus dem Wagen und suchte die Ebene dort unten ab, wo sich im Grau der Umriss einer Stadt erhob wie eine auf die Einöde geworfene Kohleskizze. Nichts zu sehen. Kein Rauch. Darf ich mal schauen? , fragte der Junge. Ja. Natürlich. Der Junge stützte sich auf den Wagen und stellte die Schärfe nach. Was siehst du?, fragte der Mann. Nichts. Er senkte das Fernglas. Es regnet. Ja, sagte der Mann. Ich weiß.

 

Das Totenschiff von B. Traven – der 7. Blick

 

B. Traven Das Totenschiff S.11. 1954

 

Gut, am Morgen, sehr früh, sauste ich raus zum Hafen. Aber da war keine Tuscaloosa zu sehen. Der Platz, wo sie gelegen hatte, war leer. Sie war heimgegangen nach dem sonnigen New Orleans, heimgegangen, ohne mich mitzunehmen. 

Ich habe Kinder gesehen, die sich verlaufen hatten und denen die Mutter abhanden gekommen war; ich habe Leute gesehen, denen ihr Häuschen abgebrannt oder von Wasserfluten fortgeschwemmt war, und ich habe Tiere gesehen, denen ihr Gefährte abgeschossen oder weggefangen war. Das alles war sehr traurig. Aber das traurigste aller Dinge ist ein Seemann in fremdem Lande, dem soeben sein Schiff fortgefahren ist, ohne ihn mitzunehmen. Der Seemann, der zurückgeblieben ist. Der Seemann, der übriggeblieben ist. 

Es ist nicht das fremde Land, das seine Seele bedrückt und das ihn weinen macht wie ein kleines Kind. Er ist fremde Länder gewöhnt. Er ist oft freiwillig zurückgeblieben und hat abgemustert aus Gründen irgendwelcher Art. Da fühlt er sich nicht traurig oder bedrückt. Aber wenn das Schiff, das seine Heimat ist, wegfährt,- ohne ihn mitzunehmen, dann kommt zu dem Gefühl der Heimatlosigkeit das tötende Gefühl des Überflüssigseins. Das Schiff hat nicht auf ihn gewartet, es kann ohne ihn fertig werden, es braucht ihn nicht. Ein alter Nagel, der irgendwo herausfällt und zurückbleibt, kann dem Schiff zum Verhängnis werden; der Seemann, der sich gestern noch so wichtig dünkte für das Wohl und für das Wandern des Schiffes, ist heute weniger wert als jener alte Nagel. Der Nagel könnte nicht entbehrt werden, der Seemann, der übriggebliebene, wird nicht vermißt, die Kompanie spart seinen Lohn. Ein Seemann ohne Schiff, ein Seemann, der nicht zu einem Schiff gehört, ist weniger als der Dreck auf der Gasse. Er gehört nirgends hin, niemand will etwas mit ihm zu tun haben. Wenn er jetzt da ins Meer springt und ersäuft wie eine Katze, niemand vermißt ihn, niemand wird nach ihm suchen. «Ein Unbekannter, offenbar ein Seemann», das ist alles, was von ihm gesagt wird. 

 

 

Blick Nummer 8 von Max Frisch. 1974 

Außer Zweifel steht das Bedürfnis nach Heimat, und obschon ich nicht ohne weiteres definieren kann, was ich als Heimat empfinde, so darf ich ohne Zögern sagen: Ich habe eine Heimat, ich bin nicht heimatlos, ich bin froh, Heimat zu haben - aber kann ich sagen, es sei die Schweiz?

Ist Heimat der Bezirk, wo wir als Kind und Schüler die ersten Erfahrungen machen mit der Umwelt, der natürlichen und der gesellschaftlichen; ist Heimat infolgedessen der Bezirk, wo wir durch unbewusste Anpassung (oft bis zum Selbstverlust in frühen Jahren) zur Illusion gelangen, hier sei die Welt nicht fremd, so ist Heimat ein Problem der Identität, d.h. ein Dilemma zwischen Fremdheit im Bezirk, dem wir zugeboren sind, und Selbstentfremdung durch Anpassung. 

 

 

 

Gehen oder die Kunst ein wildes und poetisches Leben zu führen 2011

Der 9. Blick von Tomas Espedal 

Gehen oder die Kunst ein wildes und poetisches Leben zu führen 2011 S.15

 

Der Traum vom Verschwinden. Vom Fortsein. Eines Tages zur Tür hinausgehen und nicht wiederkehren. 

 Der Traum, ein anderer zu werden. Freunde und Familie zu verlassen, sich selbst zu verlassen und ein anderer zu werden; alle Bande abzuschütteln, Heim und Gewohnheiten zurückzulassen, Besitz und Geborgenheit, Zukunftsaussichten und Ambitionen aufzugeben, um ein Fremder zu werden. 

 

Sich einen Bart stehen und die Haare wachsen lassen, seine Augen verbergen, eine Brille, zerschlissene Kleider, ausgelatschte Schuhe tragen, das Gesicht aufquellen, die Hände schwarz werden lassen, sich in seiner gewohnten Umgebung bewegen, unter seinen alten Bekannten, und beobachten, welchen Eindruck das alles auf einen macht, wenn man selbst fort ist. 

 

 

Blick 10 Arthur Rimbaud

in Espedal S 153.   1971

 

»Fürs Erste lege ich es darauf an, soweit wie möglich zu verlumpen. Warum? Ich will Dichter werden, ich arbeite daran, mich sehend zu machen: das wird Ihnen völlig unverständlich sein, und ich bin beinahe außerstande, es Ihnen zu erklären. Es geht darum, durch die Ausschweifung aller Sinne im Unbekannten anzukommen. Die Qualen sind gewaltig, doch es gilt, stark zu sein, als Dichter geboren zu sein, und ich habe mich als Dichter erkannt. Ich kann überhaupt nichts dafür. Es ist falsch, zu sagen: Ich denke; man sollte sagen: Es denkt mich. ….

Ich ist ein anderer. Was soll man machen, wenn das Holz auf einmal Violine wird? Ein Hohngelächter all den Ahnungslosen, die über Dinge räsonieren, von denen sie nicht das Geringste verstehen!

 

Song of the open road der 11. Blick von Walt Whitman  

 

S.93 Song of the open road 1855

 

Zu Fuß und leichten Herzens schlag ich

die offene Straße ein,

Gesund, frei, vor mir die Welt,

Vor mir der lange, braune Weg, der mich führt,

wohin ich nur will.

 

Hinfort frage ich nicht nach Glück,

ich bin das Glück.

Hinfort wimmere ich nicht mehr, verschiebe nicht

mehr, ich brauche nichts.

Vorbei mit grämlicher Stubenhockerei, mit

Bücherwälzen und nörgelnder Kritik,

Stark und zufrieden zieh ich den offenen Weg.

 

 

 

 

Der 12. Blick von  Elke Brüns. Aus: Unbehaust – ein Essay von 2017

Man kann nicht über Obdach­lose sprechen, ohne irgendwann auch auf ihre Gegenbil­der, die Wohnenden, zu stoßen. Welche Bilder verbinden sich mit unserem Wohnen heute? Wer wo wie wohnt, ist angesichts steigender Mieten und Gentrifizierungsprozesse nicht nur ein politisches Konfliktfeld, sondern auch eine experimentelle soziale Praxis. 

Sind Unbehaustheit und Obdachlosigkeit Synonyme der Sinn- und Orientierungsverluste in einer als proble­matisch empfundenen Moderne, so sind aber auch das Wohnen und das Zuhause verdächtig.

Wenn das Wesen des Wohnens das ‚Bleiben, Sich Aufhalten‘ ist, so verleitet dies dazu, zum Gewohnten und damit gewöhnlich zu werden. 

Max Frisch sagt:

Alles Fertige hört auf, Behausung unseres Geistes zu sein. Häuser verführen zum anhocken, anwachsen, ansteinern.

Adorno schreibt:

Das Wohnen im Spätkapitalismus macht den Menschen zum Anhängsel entfremdeten Konsumbegehrens oder muffiger Familienwelten. 

Und Walt Whitman (in Espedal S. 18 )

Fragt uns:

Ist dir nie eine Stunde gekommen,

Ein jäher, göttlicher Funke, der 

diesen ganzen Schwindel,

Mode und Reichtum, diese geschäftigen Ziele

voll Eifer – Bücher,

Politik, Liebesaffären –

in völliges Nichts zersprengt?

 

Und Elke Brüns schreibt weiter ……

 

Weiter …… 12 Elke Brüns. Unbehaust – ein Essay 2017

 

Der Obdachlose unterläuft und durchkreuzt in vielerlei Hinsicht festgelegte Strukturen. Damit verstößt er qua Existenz gegen den Zwang zur Verortung, der das mo­derne, auf die Datenerfassung der Bevölkerung bezogene Regieren charakterisiert. Denn eines der ersten Ziele der Biopolitik ist laut Michel Foucault das „Festsetzen – sie ist ein gegen das Nomadentum gerichtetes Verfahren“. Der Obdachlose ist damit, ob er es will oder nicht, ein Repräsentant rebellischer und unbotmäßiger Impulse. 

Obwohl verachtet und unsichtbar lebend, lasst er sich als eine exponierte Figur interpretieren, anhand derer und um die herum sich gesellschaftliche Prozesse und Konflikte konturieren und zuspitzen. Welche Rolle spielen Behaustsein, Unbehaustsein, das Nomadische und die Mobilität heute? Welche Freiheit gilt es zu verteidigen, welchen Besitz, welche sozialen und welche inneren Werte? 

Wem gehört der öffentliche Raum? Wie viel Armut muss eine Gesellschaft ertragen, ohne sie an den Rand zu verbannen? Welche Haltung haben wir angesichts der Not anderer und welche wäre die richtige? Man könnte Bertolt Brecht fragen und produktiv ratlos bleiben: In seinem Gedicht Die Nachtlager sammelt ein Mann Spenden für Obdachlose ein: „Das Zeitalter der Ausbeutung wird dadurch nicht verkürzt / Aber einige Männer haben ein Nachtlager. // Einige Menschen haben ein Nachtla­ger/ (...) Das Zeitalter der Ausbeutung wird dadurch nicht verkürzt.“ 

 

 

 

Die Mysterien finden im Hauptbahnhof statt  …. Ein Satz der Josef Beuys zugeschrieben wird ….. von Ulrich Hermannes  - Der 13. Blick 

13 Ulrich Hermannes Brückenschlag S.109  Die Mysterien finden im Hauptbahnhof statt. 2001

 

Über einen Zeitraum von über fünf Jahren lebte eine Frau mit kurzen Unterbrechungen im Bahnhof. Während des zweiten Weltkriegs wurde sie in Hamburg ausgebombt und zog nach Leipzig. Dort wohnte und arbeitete sie über vierzig Jahre bei der Post und kam nach der Wende wieder nach Hamburg, um hier zu leben. Ihre Vorstellung, dass sie trotz ihrer Kleinstrente und Erstwohnsitz in Leipzig kraft Geburt ein Anrecht auf eine Hamburger Wohnung habe, erfüllt sich nicht. Von da an wohnte sie auf dem Bahnhof, schlief meistens in der Mission oder auf einer Gepäckkarre hinter einem Stahlpfeiler in der Wandelhalle, wusch sich in unserem Klo ihre Wäsche und fuhr hin und wieder für ein paar Tage nach Leipzig. Bei einem ihrer dortigen Besuche schaffte man es, sie dazu zu bewegen, in ihre alte Leipziger Wohnung zu ziehen. Sie wohnte dort einige Monate, lebte nach eigener Aussage zuletzt fast ausschließlich unter dem Küchentisch, da sie sich bedroht fühlte und kehrte dann endgültig an den Hamburger Hauptbahnhof zurück. Von da an wohnte sie wieder in der gleichen Regelmäßigkeit im Bahnhof, lehnte jede Unterstützung von außen ab und fuhr in unregelmäßigen Abständen nach Leipzig. Auf einer dieser Kurztrips legte sie einen Stopp in Hannover ein, wo sie von Bahnhofsmissionskolleginnen im Wartesaal angesprochen wurde, da sie in einer schlechten körperlichen Verfassung war. Nach einem kurzen Krankenhausaufenthalt verstarb sie in Hannover. 

 

Alfons Satz s.169 – Leben auf der Straße

 

Blick 14 - Alfons Satz

Leben auf der Straße

 

Dass ich lebe,

kann ich nicht sagen ...

Aber wo ich es versuche:

 

Mitunter in der Tagesklinik

freiwillig und gestärkt!

 

Zwangsläufig scheint mir das Leben,

wenn ich es nicht unterbreche.

 

Ohne die Unterbrechung

ist es nicht zwangsläufig Leben.

 

Und wenn ich es unterbreche.

bleibt es Zwang.

 

Mir scheint die Existenz des Lebens

im Bewusstsein des Zwangs zu »wohnen«.

 

Manchmal ist der Zwang

die Freiheit. die ich suche.

 

Manchmal ist in der Freiheit

ein Zwang, der mich bedroht.

 

Für mein Leben scheint folgender Satz wahr:

Eigentlich kann ich nicht leben,

irgendwie lebe ich seit 43 Jahren ...

 

 

15 Friedrich Engels Der behauste Mensch S. 219.  Zur Wohnungsfrage 1872

 

 

Friedrich Engels: Zur Wohnungsfrage …. Der 15. Blick aus dem Jahre 1872

 

 

ENGELS: Die sogenannte Wohnungsnot ... besteht nicht darin, dass die Arbeiterklasse überhaupt in schlechten, überfüllten, ungesunden Wohnungen lebt. Diese Wohnungsnot ist nicht etwas der Gegenwart Eigentümliches; sie ist nicht einmal eins der Leiden, die dem modernen Proletariat, gegenüber allen frühern unterdrückten Klassen, eigentümlich sind; im Gegenteil, sie hat alle unterdrückten Klassen aller Zeiten ziemlich gleichmäßig betroffen. Um dieser Wohnungsnot ein Ende zu machen, gibt es nur ein Mittel. Die Ausbeutung und Unterdrückung der arbeitenden Klasse durch die herrschende Klasse überhaupt zu beseitigen. Was man heute unter Wohnungsnot versteht, ist die eigentümliche Verschärfung, die die schlechten Wohnungsverhältnisse der Arbeiter durch den plötzlichen Andrang der Bevölkerung nach den großen Städten erlitten haben; eine kolossale Steigerung der Mietpreise; eine noch verstärkte Zusammendrängung der Bewohner in den einzelnen Häusern, für einige die Unmöglichkeit, überhaupt ein Unterkommen zu finden. Und diese Wohnungsnot macht nur so viel von sich reden, weil sie sich nicht auf die Arbeiterklasse beschränkt, sondern auch das Kleinbürgertum mit betroffen hat.

 

Blick Nummer 16 

UNHCR – Report 2023 - (United Nations High Commissioner for Refugees)  

Mindestens 89,3 Millionen Menschen auf der ganzen Welt waren Ende 2021 gewaltsam vertrieben. Darunter sind fast 27,1 Millionen Flüchtlinge, von denen etwa die Hälfte unter 18 Jahren alt ist. Hinzu kommen Millionen staatenlose Menschen, denen eine Staatsangehörigkeit verweigert wurde und die keinen Zugang zu grundlegenden Rechten wie Bildung, Gesundheitsversorgung, Beschäftigung und Bewegungsfreiheit haben. 

 

Hanah Arendt – die selbst 14 Jahre Staatenlos war forderte: 

Egal, wohin ein Mensch kommt, unter welchen Umständen, und egal in welcher Situation er ist, er darf sich nie in einem rechtsfreien Raum befinden. 

Der Verlust der Menschenrechte findet statt, wenn der Mensch den Standort in der Welt verliert, durch den allein er überhaupt Rechte haben kann und der die Bedingung dafür bildet, dass seine Meinungen Gewicht haben und seine Handlungen von Belang sind. …. 

 

Die Freiheit frei zu sein

 

Mit dem Ausbruch des Kriegs in der Ukraine wurden erneut viele Menschen zur Flucht über internationale Grenzen gezwungen oder sind innerhalb des Landes vertrieben. Damit ist die Zahl der weltweit Vertriebenen auf 100 Millionen gestiegen. 

 

Das bedeutet:

Einer von 78 Menschen auf der Erde ist aufgrund von Konflikten oder Verfolgung aus seiner Heimat geflohen.

 

Interview: Yusra Mardini im Gespräch mit Jessica Sturmberg im Deutschlandfunk

Dreieinhalbstunden im Mittelmeer

 

Sturmberg: Denken Sie oft an diese dreieinhalb Stunden im Wasser? Und was passiert wäre, wenn der Motor nicht wieder angesprungen wäre?

 

Mardini: Ich habe keine Ahnung. Ich hätte schwimmen können. Und wir wären nicht so erschöpft gewesen wie andere, weil wir Leistungsschwimmer sind. Ich kann viel machen, weil ich weiß wie ich mich im Wasser bewegen muss. Aber wir haben auch an die anderen gedacht. Sie haben uns angebettelt, bitte helft uns, wenn wir untergehen. Wenn das Boot sinkt, dann bleib bitte bei mir. Viele konnten nicht schwimmen und sie sind panisch geworden und ich habe auch Panik bekommen. Ich wusste zwar, dass ich überleben kann irgendwie. Eigentlich. Aber ich hatte trotzdem Todesangst, weil Du nicht weißt, was auf hoher See passieren kann. Selbst wenn wir Schwimmer sind, es kann passieren, dass Dich jemand runterdrückt, oder dass man am Kopf getroffen wird, mit dem Boot zusammenprallt. Diese dreieinhalb Stunden waren so heftig, es gab nichts, an das ich nicht gedacht hätte, mein ganzes Leben schwamm da auf dem Meer, und ich habe mich immer wieder gefragt, werde ich am Ende sterben? Oder schaffe ich es an die Küste?

 

Sturmberg: Fühlten sich diese dreieinhalb Stunden an wie eine Ewigkeit, wie zehn Stunden?

 

Mardini: Ja es war so lang. Wir haben zwar die ganze Zeit die Lichter an der Küste gesehen, in der Ferne, aber hätten sie nie erreichen können. Es war nicht nur das Gefühl wir könnten hier ertrinken, sondern die Insel zu sehen, aber sie nicht erreichen zu können, das war eine ganz andere Stufe von Folter. Ich werde niemals vergessen, was an diesem Tag passiert ist, das Salz, das Wasser war so kalt, es war so windig. Und auch die Schlepper, die hat das nicht interessiert, ob wir überleben oder nicht. Sie haben einfach nur unser Geld genommen, auf das Boot gepackt und ja – go! Das ist so herzzerreißend, was da passiert mit den Flüchtlingen und am Ende hier anzukommen, und alle denken, wir sind gerettet und alles ist jetzt gut und dann kommt auf einmal das Problem, dass sie vielleicht nicht willkommen sind und sie müssen schon wieder kämpfen, nachdem, was sie bis dahin schon alles erlebt haben.

 

 

Blick Nummer 17 UNO- Flüchtlingshilfe 2023

Klimawandel, Konflikte, Armut, Ernährungsunsicherheit und Vertreibung überschneiden sich zunehmend, so dass immer mehr Menschen auf der Suche nach Sicherheit fliehen müssen. 

Dabei lösen Naturkatastrophen mehr als dreimal so viele Vertreibungen aus, wie Konflikte und Gewalt. 

Laut dem Internal Displacement Monitoring Centre (IDMC), so der UNHCR, haben 2022 rund 32,6 Millionen Menschen ihre Heimat aufgrund von Katastrophen und klimabedingten Ereignissen wie Dauerregen, langanhaltenden Dürren, Hitzewellen und Stürmen sowohl kurz- als auch langfristig verlassen müssen - das ist die höchste Zahl seit einem Jahrzehnt.

 

Mehr als die Hälfte (fast 60 Prozent) der weltweiten Flüchtlinge und durch Konflikte vertriebenen Menschen leben in den am stärksten von der Klimakrise gefährdeten Ländern.

Dazu gehören die fünf Länder, aus denen weltweit die meisten Flüchtlinge kommen: SyrienVenezuelaAfghanistanSüdsudan und Myanmar.

 

Heimat ist überall, wo Beziehung ist 

Heimat fühlen Menschen in der Natur 

Heimat wird geschaffen mit Kunst und Kultur

Heimat ist das ruhige Leben auf dem Land 

Heimat ist das vibrierende Leben in der Stadt 

Heimat entsteht beim Unterwegssein in Raum und Zeit

Heimat ist erfahrbar in Phantasie, Utopie und Transzendenz 

 

 

Und wo sind Sie behaust?

 

Ich habe noch einen kleinen Epilog-Blick für Sie …… den von 

 

(18 Albert Camus. 1951)

Albert Camus

 

Meine 10 bevorzugten Wörter:

Die Welt, der Schmerz, die Erde, die Mutter, die Menschen, die Wüste, die Ehre, das Elend, der Sommer, das Meer

 

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