Claudia Vitari "La città invisibili"

 

Claudia Virgina Vitari wurde in Turin geboren. Sie hat an der Kunsthochschule Burg Giebichenstein der Universität Halle studiert. Ihr künstlerisches Interesse richtet sich auf das Verhältnisses zwischen dem Individuum und der Gesellschaft  und dabei besonders auf Menschen, die am Rande der Gesellschaft leben: in psychiatrischen Institutionen, in Haftanstalten oder Asylantenheimen.

Sie verwendet Interviews, Mitschriften von Gesprächen und  Zitate und zieht Fachliteratur, themenverwandte Filme und Belletristik hinzu.  Aus Selbstbeschreibungen der Protagonisten und durch von der Künstlerin angefertigte Zeichnungen, Siebdrucke und Masken entsteht ein persönliches Porträt jedes Einzelnen.

Ihr Anliegen ist es, das Unsichtbare sichtbar zu machen: die individuellen Lebensgeschichten und den an den Rand der Städte, ins Verborgene ausgelagerten Teil unserer Lebenswirklichkeit.

Die Atmosphäre, die Stimmungen  und Eindrücke werden in einer Kombination aus Zeichnung, Bildhauerei und Installation in zwei- und dreidimensionaler Form dargestellt. Dabei verwendet Claudia Vitari durchsichtige Materialien wie Harz und Glas, die von Metallelementen eingefasst sind. Wie durch ein Fenster kann der Betrachter in das Innere der beleuchteten würfelförmigen Objekte und metallenen Lichtkästen hineinsehen.

 Die in der Ausstellung gezeigten Arbeiten sind im Rahmen des Projektes “Die unsichtbaren Städte” in Zusammenarbeit mit Mitarbeitern  von Radio Nikosia in Barcelona entstanden.  Radio Nikosia ist ein Sendeprogramm, das von Menschen mit Psychiatrie- Erfahrung gestaltet wird. Mit ihren Beiträgen geben sie einen Einblick in ihre eigenen Erfahrungen vom Leben in „totalen Institutionen“. Damit leisten sie - wie auch  die Künstlerin mit ihrer Arbeit - einen Beitrag gegen die Ausgrenzung und Stigmatisierung von Randgruppen.

Aktuell arbeitet Claudia Vitari an einem Projekt mit geflüchteten Menschen in Berlin. 

 

 

 

 Text für einen Beitrag im NeuroTransmitter 2018;29 (5)

 

 Claudia Vitari wurde in Turin geboren. Sie studierte an der Hochschule für Kunst und Design  Burg Giebichenstein in Halle an der Saale und war Meisterschülerin bei Ulrich Reimkasten, Professor für Malerei und textile Künste.           

Seit ihrem Studium beschäftigt sich Claudia  Vitari in ihren künstlerischen Recherchen mit der Untersuchung des Verhältnisses zwischen Individuum und Gesellschaft. 

Die Kunst betrachtet sie als ein Medium, Unsichtbares sichtbar zu machen. Ihr Anliegen ist es, durch eine künstlerische Darstellung Menschen, die am Rande unserer Gesellschaft leben, eine Stimme zu geben, denn die Wahrnehmung ihrer Lebensbedingungen ist unerlässlich für das Verständnis der sozialen Kultur einer Gesellschaft. Als Grundlage ihrer künstlerischen Reflexionen und Gestaltungen führt sie Gespräche mit Betroffenen und fertigt Porträtskizzen an. Durch Hinzuziehen von Fachliteratur sowie von themenverwandter Belletristik und von Filmmaterial verschafft sie sich ein differenziertes, aus verschiedenen Blickwinkeln gespeistes Verständnis der dazustellenden Sachverhalte.

 

Ihre Zeichnungen greifen altmeisterliche Darstellungsformen auf, wie sie sich in der Körperstudien bei Leonardo da Vinci - und auch in den Darstellungen von Cesare Lombroso finden. Lombroso ,1835 in Verona geboren, war Professor für gerichtliche Medizin und Psychiatrie. Er gilt als Begründer der kriminalanthropologisch ausgerichteten sogenannten Positiven Schule der KriminologieEr war der Auffassung, die direkte Verwandtschaft zu den aggressiveren, nicht kulturell domestizierten Vorfahren des heutigen Menschen trete bei manchen Personen in ihren körperlichen Merkmalen offen zutage. Eine bestimmte Schädelform oder zusammengewachsene Augenbrauen seien ein Hinweis auf eine atavistische  – damit niedrigere und gewalttätigere – Entwicklungsstufe. Damit würden äußere Merkmale auf die tief verwurzelten Anlagen zum Verbrecher hindeuten, die auch durch die Aneignung sozialer Verhaltensweisen nicht überdeckt werden können. Seinem Buch C. Lombroso, New Physiognomy or Signs of Character (1871) fügte er zur Untermauerung seiner Theorie mehrere entsprechende Porträtzeichnungen bei. 

 

Dagegen geht es Claudia Vitari in ihrer Arbeit darum, den individuellen, psychologischen und sozialen Gründen für die Entstehung von abweichendem Verhalten nachzuspüren und diese sichtbar zu machen. 

Dazu lädt sie die  Betroffenen ein, von ihrem Leben zu erzählen. Dabei interessiert sie sich besonders für  ihr Erleben ihrer je spezifischen Lebenssituation z.B. als Bewohner eines besonderen Stadtteils oder Mitglied in einer Institution. Aus den einzelnen Erfahrungsberichten versucht sie des Verallgemeinerbare und die gemeinsamen historischen, soziologischen und psychologischen Faktoren herauszuarbeiten.

Im Verlauf der Interviews entstehen Portraitzeichnungen, die als ein zusätzliches Kommunikationsmittel den Schaffensprozess begleiten. 

Die Gesprächsinhalte der Interviews werden in den Werken in Form in die Arbeit eingefügter Texte graphisch dokumentiert. Für die künstlerische Umsetzung benutzt Claudia Vitari durchsichtige Materialien wie Harz oder Glas, grafische Techniken wie den Siebdruck und rahmende Elemente aus Eisenblech. Die Transparenz glasartiger Materialien verleiht den Werken den Charakter von Schaufenstern mit dem Effekt von Linsen, in deren Innern die Lebensgeschichten der Befragten wie in kristallinen Formen eingebettet sind. Harz und Glas sind flüssige und diaphane Materialien, die sich in ihrer Konsistenz und Ästhetik vom Eisenblech, das die Werke einfasst, unterscheiden. Eisen ist ein kaltes, hartes , als ein unbeugsam zu deutendes Element, das als Metapher die starren, verkrusteten Strukturen gesellschaftlicher Einrichtungen der Gesellschaft verkörpert. Ein Riss oder ein Bruch im Glas oder Harz können als Symbole des Wunsches, sich frei bewegen zu wollen oder des Willens, einen Ausbruch aus dem Festen bzw. Unabänderlichen zu wagen, verstanden werden. 

Die Blasen im Innern des Glases oder der Harzmasse erinnern an Atemzüge, an etwas Lebendiges und noch in der Entstehung Begriffenes. Die an Totenmasken erinnernden Abdrücke, die aus dem Glas wie aus einer Wasseroberfläche herausragen, vermitteln den Gefühlseindruck von lebendig begraben sein.

Claudia Vitari benutzt die Kombination aus Zeichnung, Bildhauerei und Installation, um mit Hilfe der zwei- und dreidimensionalen Werkelemente die Beziehung von Mensch und Gesellschaft zu visualisieren.

Die Innenbeleuchtung  der Objekte verstärkt den Eindruck, etwas Verborgenes, absichtlich dem Blick Entzogenes anzuschauen.                            Es verleiht den Objekten etwas Geheimnisvolles, was die ästhetische Wirkung verstärkt.

Die von Claudia Vitari als „graphische Dokumentation“ bezeichneten Installationen erweitern in künstlerischer Form die konventionelle klinische Dokumentation um die Sicht der Betroffenen. Als Kunstprojekt weisen die Objekte gleichzeitig auf die Verallgemeinerbarkeit der Erfahrung von äußerer Beschränkung. Die graphische Dokumentation hat daneben eine historische Dimension. Sie zeigt, dass psychische Krankheit und abweichendes Verhalten nicht einfach plötzlich da sind, sondern dass ihnen ein Entstehungsprozess zu Grunde liegt, der die Veränderung des Erlebens und Verhaltens nachvollziehbar machen kann. 

 

Claudia Vitari  befasst sich seit 2008 mit dem Thema sog. "totaler Institutionen". Anregungen dazu  lieferte ihr u.a. das erstmals 1961 in erschiene Buch Asylums. Essays on the Social Situation of Mental Patients and other Inmates. Chicago 1961.(deutsch „Asyle,  Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen“, Frankfurt 1973)  des kanadischen Soziologen Erving Goffman Darin zeigt Goffman Gemeinsamkeiten auf zwischen dem Leben in psychiatrischen Einrichtungen, Kasernen und Gefängnissen. Darüber hinaus bilden die Werke von Franz Kafka, Michel Foucault und das Gilgamesch-Epos Inspirationsquellen für ihre künstlerische Umsetzung. Ihre ersten Arbeiten zu diesen Themen mit den Titeln MELANCHOLIE (2002) und PERCORSOGALERA (2009) behandeln Themen, die sich mit institutionellen Strukturen in Einrichtungen wie z.B. dem psychiatrischen Krankenhaus in Halle an der Saale in Deutschland oder der landesgerichtlichen Strafanstalt “Lorusso e Cotugno” in Turin verbinden.

 

Der Titel ihres seit 2012 mit Radio Nikosia in Barcelona realisierten Projektes „Le cittá invisibili“ geht auf das 1972 erschienenes  Buch Le città invisibili  (Die unsichtbaren Städte, Hanser, München 1977)  des italienischen Autors Italo Calvino  zurück. Darin wird in einem fiktiven Dialog zwischen Marco Polo und Kublai Khan das Panorama einer vom Untergang bedrohten Welt entworfen. „Die Hölle der Lebenden ist nicht etwas, das erst noch kommen wird. Wenn es eine gibt, ist es die, die schon da ist, die Hölle, in der wir jeden Tag leben, die wir durch unser Zusammensein bilden.“

 

Radio Nikosia ist ein vor zehn Jahren in Barcelona gegründetes soziokulturelles Projekt. Mitbegründer ist der in Argentinien geborene Martin Corea - Urquiza, Professor für medizinische Anthropologie an der open University of Catalonia, der Erfahrungen mit Radio La Colifata nach Barcelona übertrug.

Radio „La Colifata“ ist die erste Radiosendung, die aus einer psychiatrischen Klinik gesendet wird.  „La Colifata“, was sich mit „die liebenswerten Verrückten“ übersetzen lässt, wird seit 1991 von Patienten der psychiatrischen Klinik „Jose de Borda“ in Buenos Aires betrieben. In jeder Woche wird ein Programm ausgestrahlt, das sich aus verschiedenen Perspektiven mit der Thematik psychischer Krankheit befasst. 

Die Arbeit von „La Colifata“ hat das öffentliche Bild von psychisch Erkrankten in Argentinien zum Positiven verändert und zahlreiche Nachahmer in Südamerika und Europa, hier besonders in Italien und Spanien gefunden. Auch in Deutschland wurde diese Idee aufgegriffen.So ist "Durchgeknallt" – das Radioprojekt   für Psychiatrieerfahreneseit April 1998 beim Nürnberger Lokalsender Radio Z zu hören. In Lübeck existiert mit „Radio sonnengrau“ ein gemeinnütziges Webradio, in dem Betroffene über ihre Erfahrungen berichten und Experten über  psychische Erkrankungen und seelische Gesundheit informieren.

 

Radio Nikosia („split town - split brain“) sendet Berichte aus dem Erfahrungsbereich psychisch kranker Menschen. Alle Mitarbeiter von Radio Nikosia kennen das Leben in „totalen“ Institutionen aus eigener Anschauung. Sie organisieren den Radiosender und gestalten die Programme. Die Mitarbeit bei Radio Nikosia  stärkt das Selbstwertgefühl und fördert die berufliche und gesellschaftliche Re-Integration. Außerdem leistet das Radioprogramm einen wichtigen Beitrag beim Abbau von Stigmatisierung und vermittelt Hoffnung an andere Betroffene.

Mit der Wahl der Bezeichnung ihres Projektes „le cittá invisibili“ greift Claudia Vitari  die Intention des Buches von Italo Calvino auf. Beiden geht es darum, auf den im Verborgenen, am Rand der Stadt existierenden Teil der Gesellschaft aufmerksam zu machen und die dort Lebenden aus dem Dunkel ins Licht zu rücken. Insofern enthält die Arbeit von Claudia Vitari auch eine politische Botschaft, nämlich die Aufforderung, nicht wegzusehen von den Kranken, Kriminellen und Obdachlosen. Sie weist auf die soziale Dimension psychischer Erkrankung hin und grenzt sich ab von einem biologistischen Erklärungsmodell  abweichenden Verhaltens.

 

Aktuell arbeitet Claudia Vitari mit geflüchteten Menschen in Berlin. Der erste Teil der Arbeit wurde in Zusammenarbeit mit afrikanischen Flüchtlingen, die für einige Zeit am Oranienplatz in Berlin campierten, realisiert. Für dieses Projekt experimentiert sie mit dem sog. Glas-Rollup-Verfahren.  Dabei werden verschiedene Glaskugeln miteinander verbunden, um die komplexen Geschichten der Befragten formal wie thematisch in eine inhaltliche Interaktion zu setzen. Mit gestalterischen Mitteln möchte sie damit die derzeitige politische und kulturelle Debatte um Migration und Integration künstlerisch begleiten.

Eine Ausstellung des Projektes „le città invisibili“ fand im Dezember 2017 in  diekleinegalerie in Berlin statt. ( Infos unter www.diekleinegalerie-berlin.de

Dr. med. Norbert Hümbs

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