Warum gerade dieses Thema?
„unbehaust“ hat verschiedene Aspekte, die nach meinem Empfinden in der Luft liegen. Aus Sicht der Philosophen und Sozialpsychologen: die Grundsituation des Menschen, ein Gefühl der Fremdheit, die Vereinzelung.
Und ganz konkret: die Lebensumstände mit Verlust der Heimat, Entwurzelung, ein Leben ohne Dach über dem Kopf.
Für die Ausstellung habe ich Arbeiten ausgewählt, die nach meinem Eindruck einige dieser Themen aufgreifen.
Ich danke den Künstlerinnen und Künstlern für ihre Teilnahme an dieser Ausstellung.
Auf einige der Arbeiten will ich kurz eingehen.
Ich beginne mit einer Arbeit der schon seit sehr vielen Jahren in Berlin tätigen Malerin Monika Sieveking aus dem Jahr 1982. Wir sehen ein Schlaflager mit aufgeschlagenem Bettzeug. Die Arbeit hat den Titel „Kurts Bett“. Aber Kurt ist nicht da. Und es ist im eigentlichen Sinn auch kein Bett. Es ist eher ein provisorischer Schlafplatz auf einem Sofa. Ist Kurt nur zu Besuch gewesen? Oder hat Kurt keine eigene Wohnung und ist hier vorübergehend mal untergeschlüpft. Vor dem Bett steht in zugewandter Position ein Stuhl, d.h. es wird noch eine zweite Person gegeben haben, die darauf gesessen hat. Hat sie sich um Kurt gesorgt?
Im Kontrast zu Kurts Schlafplatz sehen wir auf der anderen Seite das Lager eines Wohnungslosen, aufgenommen von dem Foto- und Videokünstler Thomas Born. Das Bild stellt unsere Vorannahme einer miesen, verwahrlosten Lebenssituation in Frage. Denn das Lager ist ganz geordnet, geradezu gemütlich gestaltet, wirkt sauber und gepflegt. Es zeigt das Bemühen, sich an einem unwirtlichen Ort zu „behausen“. Über ihm die Plakate vom prallen Leben, von einem Action Film, der Vorankündigung einer Band und einem Poetry Film Festival.
Ulrich Puritz und Marianne Stoll zeigen uns 2 Arten von Nestern. Ulrich Puritz hat viele Künstlerreise-Projekte unternommen und dabei die „Villa Kolibri“ in Las Terrenas in der Dominikanischen Republik aufgenommen. Kolibri Nester sind klein, etwa 6 cm im Durchschnitt und meist aus Moos, Flechten und Gras in Büschen oder Bäumen versteckt gebaut.
Zum Vergleich dazu ein artefizielles Nestobjekt aus Tonbändern von Marianne Stoll. Hier wird nicht gebrütet sondern bewahrt: ein Zuhause für die auf den Tonbändern gespeicherten menschlichen (?) Lebenszeichen. Von Marianne Stoll stammt auch die große Collage mit dem Titel Behausungen aus Textfragmenten, Zeichnungen und Fotos im hinteren Raum.
Die Arbeiten von Anne- Francoise Cart kreisen um das Haus als Heim: der heimische Herd auf benutztem Backpapier. Ein visuelles Erinnerungsbild an ihre Zeit in Afrika. Der Herd, hier ein Gaskocher unter freiem Himmel, die Küche, das gemeinsame Essen sind Symbole für gemeinschaftliches Leben. Auch ihre weiteren Arbeiten verraten schon im Bildtitel wie „Sehne dich und wandere“ und „Erinnerungen an Afrika“ ihren Bezug zur Ferne.
Ila Wingens Arbeiten empfinde ich ebenso wie die von Anne Cart und die Collage von Marianne Stoll als poetisch. Ihr gelingt es, in ihren Bildern durch die leuchtende Farbgebung und durch die Formgestaltung die affektive, emotionale Bedeutung des Haus- und Heimatthemas zum Ausdruck zu bringen. Wir sehen Häuser, einen Garten, Früchte, eine menschliche Figur. Titel ist „Das (russische) Dorf“. Tatsächlich gibt es ein russisches Dorf Alexandrowka in Potsdam, seit 1999 Teil des UNESCO-Weltkulturerbes. Auch die Gouache, die von der Farbe gelb dominiert wird, vermittelt Licht und Wärme.
Die Zeichnungen von Jürgen Kellig haben den Titel: „Can´t find my way home“. Wir sehen eine verwirrende Ansammlung von Zeichen, eine rätselhafte Landkarte aus geometrischen Figuren, Strichen und Punkten im all-over Format. Ein Zentrum, das als „home“ angesteuert werden könnte, ist nicht auszumachen. Man findet einige Verdichtungen, die man als Straßenzüge oder Siedlungen ansehen kann, aber es verliert sich über den Bildrand hinaus in die Weite.
Eine Verwirrung und extreme Fragmentierung finden sich in der Collage von Thomas Born. Teilchenbeschleuniger lautet der passende Titel. Angesichts der etwa kugeligen Formgestalt vor dem leeren Hintergrund kam mir die Assoziation eines Himmelskörpers oder einer Art moderner Arche Noah, die von Lebenden und Toten aus ganz verschiedenen Zeitaltern bevölkert ist.
Die Arbeiten von Irene Warnke sind 2016 unter dem Eindruck der Flüchtlingsthematik entstanden. Wir sehen Menschen unterwegs mit Kind und Hund aber ohne Gepäck, wie gestandet. Der Bildraum vermittelt Verlorenheit.
In einer anderen Arbeit liegen die Menschen erschöpft am Strand. „Normalerweise“ schlafen Menschen in Betten und Tiere auf dem Boden. Aber hier herrscht keine Normalität. Die Lebensbedingungen sind auf das Existentielle reduziert.
Die Angst zu ertrinken kommt in der Fotoarbeit von Paola Telesca zum Ausdruck. „The vain attempt to keep the head above the water“ ist eine wie ein Gemälde wirkende bearbeitete Fotografie, bei der man an die Bootsflüchtlinge und an die große Zahl der bei der Flucht ertrunkenen Menschen denkt. Der rotbraune Untergrund kann auch Sumpf im weiteren Sinne sein, z.B. die Klimakatastrophe mit dem Unbewohnbar-Werden von Teilen der Erde.
In ihrer Arbeit Nansen Passports greift Paola Telesca das Thema des 1922 auf Initiative von Fridtjof Nansen eingeführten Reisedokumentes auf. Damit wurde den durch die Vertreibung aus der Sowjetunion staatenlos gewordenen Menschen ein zumindest vorübergehend gültiges Reise- und Ausweisdokument, eine völkerrechtliche Identität, verschafft.
Die Malerei von Andrea Cataudella kommt nach meiner Wahrnehmung der Darstellung der philosophischen Unbehaustheit des Menschen sehr nahe. Vor einem undefinierten grauen Hintergrund steht isoliert eine einzelne Figur. Der Mönch am Kraterrand.
Auf der kleinen Arbeit, die mir sehr gut gefällt, ist ein befremdliches Wesen zu sehen, selber verstört und verstörend.
Bei vielen der beteiligten Künstler*innen fließen durch Geburt, Leben und Arbeiten in anderen Ländern und Kontinenten interkulturelle Aspekte in die Arbeit ein.
In besonderer Weise trifft das auf Sayyora Muin und Danyang Zhao zu.
Die Fotoarbeit von Sayyora Muin beschäftigt sich - wie viele der Arbeiten der aus Usbekistan stammenden Künstlerin - mit dem Thema Heimat und dem Weggehen. Wir sehen eine Figur, die durch eine karge, fast nur durch Stromleitungen geprägte Landschaft geht. Sie trägt ein besonderes Gewand, vielleicht eine traditionelle Kleidung oder ein für sie besonders wichtiges persönliches Kleidungsstück. Vielleicht handelt es sich bei der Kleidung – wie oft bei traditioneller Kleidung - um eine Art ein Übergangsobjekt, ein Verbindungsglied zur verlassenen Heimat.
Die Arbeit der chinesischen Künstlerin Danyang Zhao lässt verschiedene Deutungsmöglichkeiten zu. Die Figur könnte ein chinesischer Wanderarbeiter sein. Seine Haltung vermittelt einen erschöpften, vielleicht bedrückten Eindruck.
Schließlich noch zu den Skulpturen von Rachel Kohn.
Ihre Arbeit mit dem Titel „unterwegs“ haben wir für das Plakat ausgewählt, weil es viele der Aspekte des Unbehaust-Seins verkörpert. Ein kleines Wägelchen, beladen mit einer großen Last. Vielleicht der Mensch, der sein Schicksal zu tragen hat?
Wir sehen auf den Straßen obdachlose Menschen mit überquellenden Einkaufswagen, in denen sie ihr oft objektiv wertloses Hab und Gut transportieren. Wir denken an Bilder von Flüchtenden, die auf allen möglichen Karren Reste ihres Besitzes transportieren. Bei den Skulpturen der zerstörten Häuser drängen sich die täglichen Fernsehbilder von Kriegszerstörungen auf. Die Hausruinen als Metapher für die Vergänglichkeit.
In Korrespondenz dazu steht die auf den ersten Blick heiter wirkende kleine Arbeit von Caty Forden. Ihre Protagonistin trägt ihr Haus, das ein Gesicht hat, wie eine Schnecke auf dem Rücken. Ihr alter ego? Wie so oft bei Caty Forden ist es aber verzwickter. Denn ein Fuß ist schon in der Luft über dem Abgrund.
Der Soziologe Hartmut Rosa empfiehlt gegen das Problem der Entfremdung des Menschen die Resonanz, ein sich berühren lassen von anderen Menschen – und von der Kunst. Ich hoffe, dass einige der ausgewählten Arbeiten bei ihnen eine solche Resonanz auslösen.
NH