Nadia-Valeska Devonish

we are all a number

 

 

Erst heute wurde wieder die Schließung einer großen internationalen Galerie in Berlin angekündigt. Brauchen wir noch neue Kunst? Es gibt ja schon soviel. Wozu ist Kunst gut? Der Philosoph Georg Bertram schreibt: „Kunstwerke werfen die Frage auf, inwiefern sie zu einer Selbstverständigung von Menschen beitragen, inwiefern sie in diesem Sinn sprechend werden“.

Hat Kunst eine gesellschaftliche Bedeutung oder macht der Künstler die Kunst nur zu seinem eigenen Vergnügen? Wenn Kunst eine gesellschaftliche Funktion hat, was ist dann unser Anteil und unser Gewinn als Rezipienten? Es heißt ja, erst die Betrachter machen Kunst zur Kunst und setzen ihre Botschaft frei. Noch einmal Bertram: „Für den distanzierten Beobachter gibt es keine Kunst. Wenn Kunstwerke nicht auf irgend-eine Weise beginnen uns anzusprechen, haben sie womöglich noch einen historischen oder kulturhistorischen Wert. Sie lassen sich aber nicht mehr als Kunst im engeren Sinne verständlich machen“.

 

Mit diesem Rüstzeug wenden wir uns der heutigen Ausstellung zu, die den Titel trägt: „ we are all a number“.

Nadja Valeska Devonisch ist in Düsseldorf geboren. Ab ihrem 10 .Lebensjahr lebte sie in Neuseeland. Dort begann sie – nach Aufenthalten in Australien und England - auch ihr Kunststudium, das sie später in Valencia in Spanien fortsetzte und mit dem Master of Fine Arts abschloss. Dazwischen lagen Studienaufenthalte in Florenz und in Santiago de Chile. Beeinflusst wurde sie von Künstlern wie  Christian Boltanski und Adrian Ghenie.

 

In der Ausstellung sehen wir Ölbilder auf Leinwand und Papier in unterschiedlichen Formaten, die sich zwei Themengebieten zuordnen lassen: der eigenen Familie und Straßenszenen. Die Familienbilder sind in Form figurativer Einzel - oder Gruppen-porträts nach Vorlagen alter Fotos gestaltet. Bei einem Bild ist eine Strandsituation im Hintergrund zu erkennen. Ansonsten sind die Hintergründe durch vermischten grün-braunen oder schwarz-roten Farbauftrag gestaltet. Meist sind die Körper klar konfi-guriert, manchmal lösen sie sich in den Hintergrund auf. Die Gesichter sind nur ange-deutet erkennbar. Man kann an idyllische Bilder einer heilen Familie am Strand und im Schnee denken. Das Gruppenbild der Frauen im Turndress fällt heraus, das Uniform-iertheit und verordnete Disziplin vermittelt. Es wurde von einem Gruppenphoto aus der Nazi-Zeit abgeleitet. Man würde sich nicht über ein Hakenkreuz auf den Turnhem-den wundern. Die uniformierte männliche Person könnte einen Bahnwärter - oder auch einen chilenischen General der Pinochet-Ära darstellen. Das großformatige Paar-porträt im Eingang und das Bild der beiden Kinder vermitteln einen etwas zwiespäl-tigen Eindruck im Hinblick auf die vordergründig zum Ausdruck kommende Lebens-freude.

Die Farbpalette der ebenfalls in Öl auf Leinwand gemalten Straßenbilder mit den vor-herrschend  gedeckten dunklen Farben ähnelt der Farbgestaltung der Familienbilder. Hier hat die Malerin von ihr aufgenommene Fotografien von Straßenszenen als Vor-lagen genutzt.  Die Figuren befinden sich in spannungsreicher Dynamik. Handelt es sich um eine Demonstration oder um ein Volksfest? Das große Bild mit dem Radfahrer vermittelt den Eindruck einer dunklen etwas unbehaglichen Situation. Allerdings führt der Weg in der Tiefe des Bildes ins Helle. Mit der vermehrten Farbigkeit geht - dann verstärkt bei den Bildern auf Papier - eine zunehmende Abstraktion einher. Durch den verwischten Farbauftrag wird der Eindruck von Dynamik verstärkt. Die Konturen der Figuren sind nicht mehr erkennbar, sie wirken entindividualisiert. Damit ist der Bogen geschlagen vom Abbild des individuell erkennbaren Einzelnen in den Familienbildern zur Anonymität in der Masse, in der die Persönlichkeit des Einzelnen nicht mehr fass-bar ist.

 

Die drei kleinen Straßenbilder weisen im Hintergrund Zahlenreihen auf, eine Liste von Personen- Identifikationsnummern. Den Bildtitel dieser Arbeiten haben wir als Titel der Ausstellung übernommen  “any given name - we are all a number“.

 

Was bedeutet es, mehrere Pässe zu haben und in verschiedenen Kontinenten aufge-wachsen zu sein, für die eigene Identität. Wie prägen die Umständen, wo und in welche Familie man zufällig hineingeboren worden ist, das Selbsterleben? 

Um sich eine für die Maori Neuseelands traditionelle Ta Moko Tätowierung in die Haut stechen zu lassen, muss zuvor der eindeutige Nachweis einer Abstammung von der indigenen Bevölkerung erbracht werden.  Durch die Globalisierung werden reine Ab-stammungen und eindeutige Identitäten seltener. Mit den Fragen nach der Bedeutung dieser Entwicklung für unser Identitätsgefühl beschäftigen sich die Arbeiten von Nadia- Valeska Devonish. Daneben thematisiert sie die Straße als Sozialraum: als Ort der Begegnung, des gemeinsamen Feierns, Schauplatz politischer Auseinandersetzung und Demonstration, aber auch die dunkle Seite der Straße mit ihren Verlockungen und Gefahren.

 

Mit dem Gestaltung der Bilder hat die Künstlerin ihre Arbeit getan, jetzt ist der Rezi-pient, die Rezipientin aufgerufen, durch ihre Beschäftigung damit, die Bedeutung der Werke freizusetzen. Dazu bedarf es Voraussetzungen, die Antoni Tapies wie folgt for-muliert hat: "Der Sinn eines Werkes beruht auf der Mitarbeit des Betrachters. Wer ohne innere Bilder lebt, ohne Imagination und ohne Sensibilität, die man braucht, um im eigenen Innern Gedanken zu assoziieren, wird gar nichts sehen."

 

Das bedeutet, auch wir Betrachter haben eine Aufgabe zu bewältigen, wenn wir von dem Dargestellten "etwas haben" wollen, wir bekommen es nicht geschenkt. Es liegt an uns, an unserer Offenheit und Beharrlichkeit, ob es uns gelingt, die Arbeiten zum Sprechen zu bringen, sie zur Selbstverständigung nutzen zu können, wie es Georg Betram formuliert hat. Dabei gehören Verständnisschwierigkeiten, Zweifel und Kritik  ebenso dazu wie Neugierde und Begeisterungsfähigkeit.

Ob einer Arbeit dann der Status eines Kunstwerkes zuzusprechen ist, ergibt sich nach Karl-Heinz Lüdeking „als unkontrollierbares Resultat, sozusagen hinter dem Rücken der einzelnen Sprecher, die den Kunstbegriff nach den jeweils von Ihnen favorisierten Kriterien verwenden und entsprechende Grenzziehungen vornehmen.“

 

An diesem Prozess des Sprechens über Kunst sind wir gemeinsam beteiligt, ich indem ich die Galerie betreibe, eine Künstlerin auswähle und vorstelle und Sie, indem sie herkommen, sich an Hand ihrer jeweils eigenen Kunstkriterien damit auseinander-setzen, vielleicht sich angesprochen fühlen oder durch den Erwerb einer Arbeit ein Votum abgeben wollen.

 

Norbert Hümbs 14.2.2020

 

 

 

Winterreise, 2017,Öl auf leinwand, 42 x 42 cm

Alle Bildrechte bei der Künstlerin

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