Vom Rand der Klippe...

Vom Rand der Klippe...

 

Vom Rand der Klippe

Der Adler weggeblasen

Im Wintersturme!

 

Das Haiku des 1718 geborenen japanischen Dichters Ryôta Oshima spiegelt die aktuelle Situation wider. Wir befinden uns am Rand einer Klippe, vor uns ein gefährlicher Abgrund. Der Adler, das stolze Wappentier, Repräsentant unseres Gemeinwesens, droht vom Wind, vom menschengemachten Sturm weggerissen zu werden, wodurch unsere Lebensform und unsere Zukunft in Frage gestellt sind.

 

Alles, was die Kulturentwicklung fördert, arbeitet gegen den Krieg, so Sigmund Freud.

Mit der Ausstellung „Vom Rand der Klippe [...]“ und den sie begleitenden Veranstaltungen versucht diekleinegalerie einen – wenn auch schmalen -- Beitrag dazu zu leisten. 

Die Arbeiten der beteiligten Künstlerinnen und Künstler bringen die Stimmung, die Unsicherheit und Ungewissheit, die unser aktuelles Gefühlsleben prägt, zum Ausdruck.

Die Veranstaltungen ergänzen das sinnlich--visuelle Angebot durch theologische, philosophisch--psychologische und politische Aspekte.

 

 

 

 

Vom Rand der Klippe ist der Titel der Ausstellung. 

 

Die Welt steht am Abgrund, das klingt pathetisch, wie ein Slogan der Aktionisten der letzten Generation. 

Aber tatsächlich: wenn man die Nachrichten aus aller Welt betrachtet, dann beschleicht einen das Gefühl, dass  sich das Leben der Menschen auf der Erde in einer bedrohlichen Situation befindet. Und es ist natürlich nicht die Welt selber, die an der Klippe steht, sondern das Leben der Menschen – zumindest in der Lebensweise, an die wir gewöhnt sind.

 

Was hat das mit Kunst zu tun?

Kunst gilt als ein Seismograf, an dem sich die Erschütterungen der Zeit ablesen lassen.

 

Nach meinem Empfinden bringen die hier ausgestellten Arbeiten in ganz verschiedener Weise die Stimmung von Bedrohung und Verlorenheit in besonderer Weise zum Ausdruck. Dabei sind die Arbeiten nicht im zeitlichen Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine (und anderen Kriegen und Hungernöten) entstanden.

 

Zunächst zu den Arbeiten von Linda Scheckel, die von ihrer Form und Materialität archaisch anmuten, was mit der verwendeten Korkasche zu tun haben kann. Linda Scheckel sucht nicht, sie findet, z.B. die Pappe mit der wie ausgeschnitten wirkenden aber zufällig vorhandenen Herzform oder die Pappe in Kreuzform. Ihre Arbeiten werfen existentielle, das Dasein des Menschen wesensmäßig betreffende Fragen auf. Sie bringen etwas zum Ausdruck, was nicht mit Sprache ausgedrückt werden kann. Die dunklen und teilweise grobkörnigen Arbeiten vermitteln etwas von der Schwere und Rätselhaftigkeit unserer letztlich unvermeidlich mit dem Tod endenden Existenz.

 

Auch Ulrike Hogrebes Arbeiten fragen nach der Stellung des Menschen in der Welt.  Der vorherrschende Eindruck wird durch die senffarbene Bildfläche bestimmt, die eine etwas unheimliche Stimmung erzeugt. Die tieferliegenden Farbschichten dringen durchscheinend an die Oberfläche, wie unsere Erinnerungen oder aus dem Unbewussten auftauchende Gedankensplitter. Eine in die Farbschichten eingekratzte Frauenfigur ohne Füße steht auf einem flachen konvexen Sockel wie ein Kreisel. Ihre beiden Arme sind ausgestreckt in Richtung eines sich über ihr fliegenden Bumerangs. Ein Zeichen der Hoffnung auf Wiederkehr? Oder eher Ausdruck der Ohnmacht, das Verlorene nicht zurückholen zu können?

 Eine ähnliche Verlorenheit vermitteln auch die kleinen Schafe in der Landschaft. Kein Baum, kein Gras und auch kein Mensch mehr.  Ulrike Hogrebe gelingt es, das Bedrohliche, die Verlorenheit unserer Existenz ästhetisch-poetisch darzustellen.

 

Von Susanne Tischewski sind zwei große Arbeiten zu sehen, denen Texte von Ulf Tischewski zugrunde liegen, die traumatische Ereignisse zum Inhalt haben. Einmal ein ungläubiges, mühsam beruhigendes: „es ist ja vorbei“, welches das Ende einer belastenden, bedrohlichen Situation markiert. In der anderen Arbeit wird das Thema der Vergewaltigung als Kriegswaffe visualisiert. In aufgelöster Malweise  wird  ein Resonanzraum geschaffen, auf dem das Unbegreifliche, Unaussprechliche als durchgehendes Wort in  nüchternen Druckbuchstaben mitgeteilt wird, verfremdet durch die darüberliegenden  weißen und farbigen Fetzen. 

 

Andrea Cataudella gibt seiner Arbeit den Titel  „Warum gibt es etwas und nicht nichts“ , der klingt wie eine der Kinderfragen, die oft den Dingen direkt auf den Grund gehen. Wir sehen eine Figur am Boden liegen. Die Stimmung des Bildes lässt uns eher an den Tod als an einen erquickenden Schlaf denken. Der Tod ist einsam. „Jeder stirbt für sich allein“ hat Hans Fallada seinen bekanntesten Roman betitelt, in dem es auch um das Gefühl ständiger Bedrohung und Angst geht.

„Du und ich“ ist seine andere Arbeit  benannt. Wir sehen ein Kopf-Brust Porträt eines Menschen, einmal von vorn und einmal von hinten. Aber ist es nicht dieselbe Person?  Die zwei Seiten, nach C.G. Jung das positive Selbstbild einer Person und der Schatten, der die dunklen Seiten der Persönlichkeit widerspiegelt und der eine wichtige Rolle in unseren Motivationen und Handlungen spielt. Ein Blick auf den Zustand der Welt und  unser Zusammenleben belegt die Bedeutung und Ubiquität des Schattens.

 

Hector Navarrete greift in seiner Arbeit „Lacrimae Rerum“ einen Vers aus dem Epos des römischen  Dichter Vergil über den trojanischen Krieg auf, den der irische Dichter Seamus Heaney mit den Worten „Es gibt Tränen im Herzen der Dinge“ übersetzt hat. Hector Navarrete hat mit seinen mit Pigmenten und Ölpastell geschaffenen Arbeiten einen Interpretationsraum dieser Vorstellung geschaffen in Form verschiedener visueller Farbklänge. In seiner Arbeit  verbinden sich Assoziationen der Farben und Bilder seiner argentinischen Heimat mit seiner Beschäftigung mit Lyrik, u.a. auch Haikus und der Mythologie. Hierbei spielt das japanische Konzept des mono no aware eine Rolle, die Freude an der Ästhetik der Dinge, die das Bewusstsein um die Vergänglichkeit einschließt, was paradigmatisch in der Kirschblüte um Ausdruck kommt.

 

Druckversion | Sitemap
© diekleinegalerie