Stephanie Krumbholz "BREITENGRAD"
Bildrechte Stephanie Krumbholz
Einführung zur Ausstellung "BREITENGRAD" am 14. Februar 2019
Stephanie Krumbholz war Meisterschülerin bei Professor Liebmann an der Kunsthochschule Weißensee. Ihre anfänglich figurative Formensprache hat sich im Laufe ihrer Entwicklung weitgehend in Abstraktion aufgelöst. Die in der Ausstellung „BREITENGRAD“ gezeigten Bilder weisen regelhafte Strukturen und zufällige Elemente auf.
Breitengrad: das ist die im Winkelmaß der Maßeinheit Grad angegebene nördliche oder südliche Entfernung eines Punktes der Erdoberfläche vom Äquator.
D.h. Breitengrade verlaufen parallel zum Äquator. Es gibt 180 Breitengrade, 90 positive und 90 negative.
Schon Claudius Ptolomäus verwandte in seinem 150 nach Christus in Alexandria für Seefahrer erstellten Atlas ein Gradnetz mit Längen- und Breitengraden. Ab 1634 wurde als Nullmeridian ein Ort auf den Kanarischen Inseln angenommen. Seit 1884 ist der durch Greenwich verlaufende Null- Meridian gebräuchlich.
D.h. die Festlegung eines Koordinatensystem zur Positionsbestimmung hat einen längeren Prozess durchlaufen. Und damit kann ich eine Brücke schlagen zu den Arbeiten von Stephanie Krumbholz.
Ein Blick zurück auf ihre früheren Positionen zeigt 1995 noch sehr figurative Arbeiten, die bald einer immer stärkeren Abstraktion weichen. Wir finden an Twombly oder Tapies erinnernde gestische Andeutungen, amorphe organisch anmutende Formen und schließlich geometrische Figuren.
Schon in Ihrer Arbeit Herz aus dem Jahr 2002 taucht eine horizontale Streifung auf. Überhaupt gibt es eine Reihe von Arbeiten, die den Mediziner aufhorchen lassen: das Herz, aber auch das kalte Herz, Herzgefäß, den Bogengang, den Rippenbogen. Dabei lösen sich ihre Arbeiten immer stärker vom Gegenstand und münden in eine abstrakte Formensprache.
Ab 2006 finden sich Themen mit Landschaftsbezug: die Prinzenstraße, die Wegmarke, im Gehölz - und mit zunehmendem Abstand d.h. Abstraktion landen wir jetzt beim Breitengrad.
Berlin liegt 52 Grad nord, 13 Grad ost. - aber geht es nur um eine geografische Positionsbestimmung? Oder auch um eine des Menschen, der Künstlerin? Immerhin lauten Titel früherer Arbeiten schon Ich, Du, Wir.
In unserer heutigen Ausstellung zeigen wir maltechnisch ganz unterschiedliche Arbeiten (Öl, Gouache, Monotypie) , die aber thematisch zusammenhängen und thematisch um Ordnung und Zufall und um Vergangenheit und Gegenwart kreisen.
Wir sehen hier lauter ungegenständliche Arbeiten. Die horizontale Bildaufteilung legt die Vorstellung von Landschaft nahe. Aber sind es abstrakte Arbeiten, abgeleitet vom gegenständlichen Bild einer Landschaft? Die mit dem Lineal gezogenen, parallelen Linien lassen an Einflüsse des Konstruktivismus denken. Der Konstruktivismus wollte sich ja nicht als abstrakte, vom Gegenstand abstrahierende Malerei verstanden wissen, sondern als Transformation der Gesetzmäßigkeiten des Lebens, des Universums ins Geistige. Einen Verweis auf den Kosmos finden wir auch hier: „Wenn der Mond im siebten Hause steht“, ein Bildtitel nach einem Song aus dem Musical Hair.
Die geraden oder geschwungenen geometrischen Linien als Ausdruck der universellen Gesetze, die nicht vom Menschen geschaffen wurden und denen auch der Mensch unterworfen ist.
Aber die gleichmäßig erscheinenden Raster sind gar nicht so gleich. Unterhalb einer manchmal an Barnett Newmanns Strip erinnernden Farblinie setzen sich die Markierungen nur noch auf den ersten Blick gleichmäßig fort, tatsächlich ist da die strenge Ordnung schon aufgehoben.
Stephanie Krumbholz zieht Linien auf den Untergrund aus Ölkreide, ritzt die Farbschichten mit dem Cuttermesser leicht im Verlauf ihrer Linien auf und trägt dort behutsam Wasserfarbe auf, die an den Einritzungen in das Papier eindringt und sich ungleichmäßig verteilt. D.h. sie setzt die konstruktivistisch mit dem Lineal geschaffenen Strukturen der Zufallsverteilung des Farbflusses aus. Die Farbkleckse, die sich in unregelmäßigen Abständen und in unterschiedlicher Stärke auf der Lineatur ausbreiten lassen an eine Partitur mit einer altertümlichen Notenschrift denken. Das Bild aus verschiedenen Tonhöhen und Farb-Tonwerten lässt ein atonales Klangbild erahnen. Es ist ja kein Zufall, dass die neue Musik mit ihren Erweiterungen der klanglichen, harmonischen und rhythmischen Mittel ebenso wie der Jazz fast zeitgleich mit der abstrakten Malerei entstanden ist.
Das heißt: In ihren Bildern sehen wir beides: das Bemühen, durch Linien und Kreise eine Ordnung zu schaffen, die Welt verständlicher zu machen, die Komplexität zu reduzieren – aber auch die Grenzen oder die andere Seite: den Zufall, die Eigengesetzlichkeit, die sich der Planbarkeit und Verständlichkeit entzieht.
Stephanie Krumbholz Arbeiten lassen uns daneben an der Geschichte des Malprozesses teilnehmen. In ihren Bildern finden wir mehrere übereinander liegende Farbschichten. Durch Kratzen und Ritzen legt sie Spuren der Vergangenheit frei. Ein Blick zurück. Was einmal war, ist nicht verschwunden, nur überdeckt. Es prägt den Hintergrund, zeigt sich an Stellen, wo die oberste Schicht dünn oder aufgerissen ist. Die Vergangenheit ragt sichtbar in die Gegenwart hinein.
Die Zeitdimension scheint auch in den von ihr verwendetem Maluntergründen auf: z.B. ein Blatt aus einem alten Kassenbuch einer Schneiderei aus den 30-ger Jahren, wobei einige Jahre der Kriegszeit fehlen und es 1945 weitergeht – unter anderem Namen, Karteikarten aus der Tiermedizin mit Verweis auf ein Lehrbuch „Präparierübungen am Pferd“ von 1898 und eine Stechkarte zur Aufzeichnung der geleisteten Arbeitszeit, auf der die regelmäßige Anwesenheit von etwa 8.30 bis 15.30 registriert ist.
Aber zurück zum Breitengrad. Es geht ja um Positionsbestimmung – auch die der Künstlerin. Es gibt Regeln, Strukturen, ein Gerüst, die ewigen Gesetze. Aber das ist nicht alles. Glücklicherweise. Es gibt auch das Unberechenbare, den Zufall, das Spiel mit der Eigengesetzlichkeit der Materialien. Es gibt das helle offene Wolkenkuckucksheim – mit schmalem Bodensaum, mal kräftige, mal nur zarte Andeutungen von Form und Farbe, mal luftige, mal strenge Strukturen. Daraus lese ich: die feste, immer gleiche Position, den Breitengrad, den gibt es auf der Landkarte, aber nicht im Leben und in der Kunst ja sowieso nicht.
Über die Bildtitel Wegenetz, Wegmarke, Weichenstellung landeten wir im Gespräch über Umwege bei den Philosophen. Und da fiel ihr ein – natürlich nicht zufällig erinnertes - Zitat von Kierkegaard ein:
„Verstehen kann man das Leben rückwärts, leben muss man es aber vorwärts“.
Norbert Hümbs